Nach Gelsenkirchen ist vor Gelsenkirchen. Seit meiner Verabschiedung als writer in residence kehre ich zweimal auf Besuch zurück und erkunde dabei weitere (Kultur-)Orte im Ruhrgebiet, darunter drei Theater.
Theaterwochenende
Am vergangenen Wochenende fand das Theaterfestival „Zehn X Freiheit“ statt. Ein idealer Anlass, mal wieder im Ruhrgebiet vorbeizuschauen. Mit dem Festivalticket sehe ich innerhalb von 24 Stunden 3 Inszenierungen, die an dem Wochenende Premiere feiern – eine ziemlich geballte Ladung Kultur:
- Im Schauspielhaus Bochum sehe ich „Schande (Disgrace)“, eine Adaption des Romans von J.M. Coetzee. Der Regisseur Oliver Frljić bringt kritische Fragen, die man an seine Inszenierung haben könnte, gleich mit auf die Bühne und lässt sie von den Spielenden mit dem Publikum während der Aufführung diskutieren (wovon das Publikum durchaus Gebrauch macht): Ist es vertretbar, den – teils als rassistisch rezipierten – Postapartheids-Roman überhaupt auf die Bühne zu bringen? Wieso nicht einen Text aus einem anderen Blickwinkel als ausgerechnet wieder dem eines weißen Akademikers? Wieso diese unausgeglichene Besetzung: drei Männer und lediglich eine Frau, die zugleich auch die einzige Person of Color auf der Bühne ist? (Wie fühlt sich das für die Betroffene an?) Und: Wie lässt sich über sexualisierte Gewalt sprechen, diese sogar darstellen, ohne sie zu reproduzieren?
- Mit „Der Platz“ von Annie Ernaux sehe ich am Theater Dortmund gleich die nächste Adaption eines literarischen Textes, der eigentlich nicht für die Bühne geschrieben wurde. Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler rezitieren Passagen daraus fast wie bei einer szenischen Lesung. Die Regisseurin Julia Wissert verlässt sich sehr auf die literarische Vorlage, wie in einer Rezension zu lesen ist, und das ist überhaupt nicht schlimm, denn der Text ist sehr stark. Die Autorin zeichnet in dem autofiktionalen Werk ein Portrait ihres verstorbenen Vaters und macht dabei deutlich, welch ein Schmerz sich mit dem Aufstieg aus dem Arbeitermilieu verbinden kann: der Schmerz, der eigenen Herkunft bzw. Herkunftsfamilie fremd zu werden.
Besonders berührt mich ein Moment der Inszenierung, als die Figuren minutenlang in unbequemen Ballerinaposen zunehmend zitternd auf Zehenspitzen stehen (ein eingängiges Sinnbild für die andauernde Anstrengung, antizipierten sozialen Erwartungen zu entsprechen), während eine einzelne Figur dazwischen extatisch tanzt und dabei von einer Stelle der Bühne zur nächsten hastet – zum Song „Rhythm of the Night“ von Corona. (Dass ich diesen Song je mit Rührung oder überhaupt irgendeinem erwähnenswerten ästhetischen Erlebnis in Verbindung bringen könnte, hätte ich bis dahin nicht für möglich gehalten.) - Im PACT Zollverein in Essen schaue ich mir „Before my every I“ des Kollektivs Laokoon an, eine Arbeit über die Datensammelwut von Tech-Konzernen am Beispiel von Google. Das Publikum konnte sich vorab beteiligen: Es war aufgerufen, die eigenen von Google gesammelten Daten abzurufen und bei Laokoon einzureichen. Anhand dieses Materials hat das Kollektiv das Programm für den Abend entwickelt – eine unterhaltsame Mischung aus Recherche-Einblicken und Show. Drei Personen, die Datensätzen eingereicht haben, landen auf der Bühne, treten in mehreren Runden gegeneinander an und lösen gemeinsam Aufgaben: Sie backen aus wenigen Zutaten und ohne Rezept einen Cookie (Wortspiel!) in der Mikrowelle, erraten zu angespielten Songs Band und Titel, ertasten Gegenstände in einer Box, wählen aus mehreren Fotos diejenigen Personen aus, mit denen sie sich auf ein Date treffen würden usw. Parallel dazu erfährt das Publikum Details aus der Auswertung eines der drei Datensätze: Auf welche Persönlichkeitsmerkmale lassen die Frequenz der Suchanfragen bei Google sowie die bevorzugten Songs und Filme schließen? Welche politischen Einstellungen und welche sexuelle Orientierung lassen sich herauslesen? Am Schluss des Abends darf das Publikum raten, zu welcher der drei Personen auf der Bühne der Datensatz gehört – und stimmt fast einstimmig für die richtige Person.
Rückblick und Ausblick
Bereits Ende September bin ich für wenige Tage in Gelsenkirchen und habe unter anderem die Goldstücke besucht:
Das Ruhrgebiet ist immer wieder einen Besuch wert, stelle ich fest und mache für die kommenden Wochen gleich mehrere Anlässe aus, die einen erneuten Besuch lohnen würden (was davon ich im Terminkalender unterbringen können werde, steht leider auf einem anderen Blatt), zum Beispiel „Licht an!“ mit offenen Ateliers und Galerien in Ückendorf Ende November und die Ausstellung „Leben nach dem Tod“ zum 10. Todestag des Gelsenkirchener Künstlers Jürgen Kramer mit Werken von ihm und seiner künstlerischen Weggefährtin Nancy E. Watt im The Igloo in Essen (21. November bis 12. Dezember 2021).
(Jürgen Kramers zeitlebens intensive Auseinandersetzung mit dem Tod und mit Katastrophen durfte ich im September bei einem Besuch in dessen Archiv erleben. Darin hat Heidi Kramer etwa 400 seiner Werken zusammengetragen. In ihnen wimmelt es von Bedrohlichem: Feuer, Sturm, Flut, Risse in Häusern … über lange Zeit in sehr dunklen Farbtönen, dann, nach einer „inneren Emigration“, wie Heidi Kramer es nennt, in einer helleren, freundlicheren Farbpalette, deren Heiterkeit in Kontrast zu den weiterhin schweren Themen steht.)
Königin der Wortspiele
„Gelsenkirchen ist überall.“ Diesen Satz schnappe ich von der Künstlerin Nancy E. Watt bei meinem Besuch des Archivs von Jürgen Kramer auf. Wie sehr er doch stimmt, denke ich, als ich wenig später vor einem Plakat in München stehe. In dem Moment habe ich die zahlreichen Wortspiele noch sehr frisch im Kopf, mit denen in Gelsenkirchen in Anspielung auf das Autokennzeichen „GE“ für unterschiedliche Initiativen und Angebote geworben wird, zum Beispiel das Bildungsagebot GEfördert, die Imagekampagne AusGEzeichnet, die Mängelmelder-App GE-meldet, die Seniorenzeitschrift GE-nior, die Müllvermeidungsaktion GEbechert, die Brauerei GE Bräu und das von ihr hergestellte GEsöff … Und so kommt es, dass ich angesichts des Plakats in München sofort an Gelsenkirchen denke und mich für einen kurzen Augenblick darüber wundere, dass die Stadt im Ruhrgebiet nun im Süden der Republik so offensiv für sich wirbt – bis ich meinen Irrtum bemerke (nein: GEmerkt habe).
Dialog der Woche
In einem indischen Restaurant in Bochum.
Der Kellner: Erwarten Sie noch jemanden oder bleiben Sie allein?
Ich: Ich bleibe allein.
Kurze Stille.
Der Kellner, betont zuversichtlich lächelnd: Na, Hauptsache gesund.
(Nach diesem etwas seltsamen Einstieg werde ich positiv überrascht. Es folgt der aufmerksamste Service, den ich seit Langem in einem Restaurant genießen durfte – gleich vier Leute umsorgen mich wie eine Königin: schnell, zuvorkommend, mit sehr leckerem Essen und auf mehrere Extrawünsche eingehend.)