Die letzten Tage in Gelsenkirchen sind viel zu schnell vergangen – ein Rückblick auf eine Tattoo-Ausstellung, zwei Lesungen und einen Besuch im Landschaftspark Duisburg Nord.
Nicht gestochene Tattoos
Im 1Null7, einer Mischung aus Laden, Galerie, Veranstaltungsort und – laut eigener Bezeichnung – „Zuhause“, besuche ich Ende August eine Gruppenausstellung, die den Blick auf die schwierige Lage von Tattoo-Kunstschaffenden in den vergangenen anderthalb Jahren lenkt: Unter dem Titel „Unlocked Art. Tattoo retrospective of the #fuckup“ zeigten etwa 30 Mitglieder von des Vereins Tätowierkunst e.V. Kunstwerke, die in der Pandemie entstanden sind, jedoch aufgrund des faktischen Berufsverbots nicht gestochen werden durften. Statt unter der Haut sind die Arbeiten in der Ausstellung als Zeichnung, als Druck, mit Tusche, mit Blattgold, als Brandmalerei, mit Wasserfarbe und Lack verwirklicht worden, auf Papier, auf einem Skateboard, auf Holz … wie auf den Gliederhänden von Melissa Kautz, vor denen ich länger stehenbleibe. Den sehr passenden Soundtrack zu dieser entrückten (da aus ihrem eigentlichen Kontext herausgelösten) Kunst liefert an dem Tag die Band Virusstellar mit ihrem spacig-verträumter Sound (zum Beispiel bei Youtube zu hören).
Tolle Wörter in Duisburg
Zwei Ausflüge führen mich nach Duisburg, wo ich unter anderem den Landschaftspark Duisburg-Nord sowie den Rheinpark erkunde und der berühmten Brautmodenstraße Weseler Straße im Stadtteil Marxloh einen kurzen Besuch abstatte.
Besonders beeindruckt mich der mehrfach preisgekrönte Landschaftspark Nord auf dem Gelände eines ehemaligen Hüttenwerks. So viele fotogene Perspektiven! Ich halte die Kamera fast durchgehend in der Hand. Neben den tollen Ausblicken schwelge ich in den mir fremden Vokabeln, die auf Schautafeln erklärt werden und die eine ganz eigene Atmosphäre verbreiten: Staubsack, Wirbler, Staubscheideraum, Glockenhebelbühne, Gichtbühne, Schütt- und Drehtrichter, Oberglocke, Unterglocke, Heißwind-Ringleitung, Winderhitzer … Auch aus dem Notieren komme ich kaum raus.
Abschiedsstimmung
Es lässt sich nicht drum herumreden: Mein Aufenthalt in Gelsenkirchen neigte sich in den vergangenen Woche spürbar dem Ende zu. Das machte sich an Details fest – ich gab geliehene Bücher zurück, sprach Verabschiedungen aus, nahm welche entgegen, meist verbunden mit guten Wünschen für meine Rückkehr nach München.
Zu dieser Abschiedsstimmung passte es, dass ich für die letzten zwei Wochen in eine andere Wohnung zog – und dafür meine Sachen zusammenpackte (siehe Foto), eine Art Generalprobe für die Abreise: Werde ich mein Gepäck allein tragen können, wenn ich mit der Bahn zurück nach München reise? Was davon schicke ich mir besser schon vorab als Paket (maximal 25 Kilo dürfen es beim Paketzusteller meines Vertrauens sein).
Um mich zu sammeln und Bilanz zu ziehen, ging ich in den letzten Tagen und Wochen mehrmals auf die Halde Rheinelbe, die von meiner Wohnung aus nächstgelegene Halde, beobachtete dort mehrere Sonnenuntergänge und auch einen Sonnenaufgang, ließ die Zeit in Gelsenkirchen Revue passieren und schrieb einen Text (siehe Foto), in dem die Halde auch eine Rolle spielt. (Bevor die Frage aufkommt: Der Text wird bald zu lesen sein, sei es hier im Blog oder andernorts.)
Zwei Lesungen
Zum Abschluss meiner Zeit in Gelsenkirchen gehören auch zwei Lesungen: meine Abschlusslesung als writer in residence mit der Präsentation von Ergebnissen aus den beiden Schreibwerkstätten (5. September) und eine Lesung in der werkstatt in Buer (6. September).
Bei der Abschlusslesung präsentieren die Teilnehmenden der Schreibwerkstätten über ein Dutzend kurzer Texte, darunter sehr präzise Beobachtungen aus dem Alltag in den Stadtteilen Horst und Ückendorf, Erinnerungen sowie Reflexionen, kleine erfundene und abgelauschte Geschichten (unter anderem aus Sicht einer als Sperrmüll entsorgten Matratze, der wohl originellsten Perspektive, die in den Texten gewählt wurde 🙂 ) … Das Publikum nimmt die Texte sehr positiv auf, mich erreichen viele freundliche Rückmeldungen, die ich den Teilnehmenden freudig weitergebe.
Im Anschluss lese ich ebenfalls zwei Texte: den Text „Die volle Ladung aus Schalke“, der im Kontext der transurban residency entstanden ist (wie in einem früheren Blogpost berichtet) sowie den oben erwähnten persönlichen Rückblick mit Bezug zur Halde Rheinelbe.
Am Tag drauf lese ich in der werkstatt im Stadtteil Buer – und bin fast etwas erstaunt, dass sich nach gerade einmal 24 Stunden erneut Publikum einfindet, das mich lesen hören möchte (unter anderem mag das daran liegen, dass die Abschlusslesung im südlichen Stadtteil Ückendorf stattfand, die Lesung am Tag drauf im nördlichen Stadtteil Buer, der sich in vielerlei Hinsicht noch als eigenständig wahrnimmt, obwohl die Eingemeindung nach Gelsenkirchen bereits knapp 100 Jahre zurückliegt).
Das Publikum in der werkstatt ist sehr interessiert – eigentlich haben die Moderatorin, Andrea Rohmert, und ich vorgesehen, dass das Publikum Fragen am Schluss der Lesung stellen kann, doch tatsächlich melden sich nach jedem Textblock mehrere Anwesende zu Wort mit Anmerkungen, Rückfragen … ein lebendiges Gespräch entsteht.
Eine der schwierigsten Fragen, die mir an dem Abend gestellt werden, lautet, ob ich denn in den drei Monaten – wie von der Ausschreibung des Stipendiums angeregt – den Wandel in Gelsenkirchen tatsächlich beobachten konnte. Die Frage bringt mich in Verlegenheit. Denn natürlich sind drei Monate zu kurz, um langfristige Veränderungen wirklich beobachten zu können. Allerdings lassen sich zum Beispiel in Ückendorf viele Stellen beobachten, an denen sich allein schon baulich etwas tut, antworte ich. Zwar kann ich nicht beurteilen, wohin die Veränderungen führen und ob sie die erwünschte Wirkung erzielen, dennoch kann ich beobachten, dass und wo sich etwas tut (und welche Intention dahinter steckt). Ob die Veränderungen zum erhofften Ergebnis führen, wird sich erst noch zeigen. Auch deshalb deshalb scheint es mir sinnvoll, dass es nächstes Jahr einen oder eine nächste/n writer in residence gibt: um die Reihe von Momentaufnahmen, die ich begonnen habe, vielleicht fortzusetzen, so dass sich diese mit der Zeit zu einer Langzeitbeobachtung fügen – die besser auf die Frage nach dem Wandel antworten kann.
So ist das Ruhrgebiet
Sich kreuzende Verkehrswege auf mehreren Ebenen, das sei typisch Ruhrgebiet, habe ich jemanden in den vergangenen Wochen sagen hören. Das habe ich noch im Ohr, als ich auf einem Spaziergang auf einer Brücke für Rad- und Fußverkehr stehe, auf eine Fahrbahn schaue, die wiederum teils auf einer Brücke über ein Gewässer geführt wird, weitere Brücken im Hintergrund.
Es war eine tolle Zeit mit dir und eine schöne Gelegenheit die nahen und etwas ferner gelegenen Ort in und um Gelsenkirchen mal wieder zu erkunden. In dem wir uns Gedanken gemacht haben, was wir dir alles empfehlen können, sind so viele Dinge zu denen hinzugekommen die du selbst noch abhaken wolltest, dass dir gar nichts anderes übrig bleiben wird, als wiederzukommen. Du bist jederzeit herzlich willkommen!
Sehr interessanter Blog, schön zu lesen. Grüße aus Hamburg!
Vielen Dank, das freut mich. Grüße nach Hamburg! (Aus Neugier: Wie wird man denn in Hamburg auf diesen Blog aufmerksam? 🙂 )