Schreiben, Selbstironie und Theaterhitze

In rotes Licht getauchte Bühne mit altem Ford Mustang und Videoprojektion
Aus dem Stück „Trip Over“ von Theater Titanick auf der Sommerbühne auf Consol

In dieser Woche gehe ich erneut mit Interessierten auf Schreibexpedition, erfahre etwas aus der Zeitgeschichte Gelsenkirchens und bekomme die Hitze des Theaters zu spüren.

Schreibexpedition Ückendorf

Am vergangenen Wochenende fand meine zweite Schreibwerkstatt statt, dieses Mal in Ückendorf. Sieben Schreibinteressierte haben mit mir das Viertel erkundet, unter anderem bei zwei experimentellen Spaziergängen, bei denen die Teilnehmenden abwechselnd entschieden haben, in welche Richtung wir gehen. Auf diese Weise landen wir einmal in der Siedlung Flöz Dickebank und einmal am Wissenschaftspark, listen Eindrücke auf: Was können wir sehen, hören, fühlen, riechen, vielleicht auch schmecken? Besonders schauen wir dabei nach Grenzen (beim ersten Spaziergang) und nach Dingen, die Spuren menschlichen Gebrauchs erkennen lassen (beim zweiten Spaziergang).

Ein Glücksfall: Zwei Teilnehmerinnen haben früher in Ückendorf gewohnt und nehmen uns auf eine Führung zu privaten Erinnerungsorten mit. Die eine hat hier Anfang der 1960er-Jahren entscheidende Erfahrungen als junge Frau gemacht, unter anderem ihren künftigen Mann bei einem Tanzabend im Gemeinschaftshaus der Heilig-Kreuz-Kirche kennengelernt, die andere hat in den 2010er-Jahren fünf ebenfalls prägende Jahre im Viertel gewohnt und berichtet uns vom damaligen Szenetreff Subversiv, mit dem ihr Freundeskreis eng verbunden war.

Auf diese Weise kommt viel Material für Texte zusammen. Ergebnisse aus der Schreibwerkstatt werden am 5. September 2021 bei meiner Abschlusslesung zu hören sein (siehe Termine).

Als wir zum Schreiben in der Siedlung Flöz Dickebank halten, bleibt eine Anwohnerin stehen und erkundigt sich, was wir dort machen. Die Begegnung inspiriert mich zu einer kleinen Notiz:

Die Einladung auf einen Tee, auf einen Kaffee geht immer, um das Eis zu brechen, zum Beispiel neben einem frisch geparkten Auto: Was macht Ihr hier? Zeichnet Ihr, schreibt Ihr? Wonach schaut Ihr? Seid Ihr von der Stadt? Ich wohne seit 30 Jahren im Viertel, vorher Flöz Dickebank, jetzt hier, früher zur Miete, heute im Eigentum. Ich wohne wie auf dem Dorf. Fünfhundert Meter weiter ist die Stadt mit ihren Autos, Dönerbuden und der Trinkhalle, aber hier gehen die Leute auf den Bürgersteigen langsam, hier fühle ich mich wohl. Möchtest Du einen Tee, einen Kaffee, komm herein und bring Deine Begleitung mit, kommt zu fünft, kommt zu sechst in mein Haus, ich wohne gern hier, ich teile gern, ich erinnere mich gern.

Ückendorf, 14. August 2021

Parkende Autos und Schild "SB-Getränke Center"
Straßenansicht von der ersten Schreibstation in der Siedlung Flöz Dickebank

Die Erfindung der Selbstironie

Bei einer exklusiven historischen Führung mit dem Leiter des Stadtarchivs, Daniel Schmidt, schnappe ich ein paar zeitgeschichtliche Fakten auf, etwa die tragische Rolle der Montanindustrie beim Strukturwandel (die die Neuansiedlung weiterer Industrie teils vereitelt und somit die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert hat) und die Heinze-Frauen als Meilenstein der Frauenbewegung in Deutschland, sowie die Bezeichnung der A40 als „Sozialäquator“ des Ruhrgebiets (nachzulesen im entsprechenden Kapitel des „Atlas der Metropole Ruhr“). Auch wunderbar Beiläufiges erfahre ich – zum Beispiel, auf welchem Bolzplatz Mesut Özil das Fußballspielen gelernt haben soll und in welcher Eisdiele Manuel Neuer früher oft anzutreffen war.

Schmunzeln muss ich, als ich vom Wirbel um ein Lied des Kabarettisten Georg Kreisler erfahre, das Gelsenkirchen gewidmet ist und 1961 im NDR gesendet wurde – mit Zeilen wie: „Wo ist der Kinobesuch und der Alkoholismus erheblich? / Wo ist die Bettwäsche grau und die Seifenreklame vergeblich?“ Und der Antwort: „Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / In unserem ungemütlichen Grubengasparadies!“ Der Haupt- und Finanzausschuss der Stadt befasste sich im Oktober 1961 damit, wie ich in einem Sitzungsprotokoll in der historischen Ausstellung im Hans-Sachs-Haus nachlese. Damals diskutierten die PR-technisch schlecht beratenen Herren (ja, ausschließlich Herren stehen im Protokoll) einigermaßen hilflos darüber, ob nun Totschweigen, Klage oder einstweilige Verfügung die bessere Option sei. Schließlich billigten sie einstimmig einen Protestbrief, der ganz im Sinne des Streisand-Effekts seinen Zweck verfehlte. (Drei Jahrzehnte später der Sinneswandel: Eine Sonderedition des Lieds erschien in den 1990er-Jahren mit dem damaligen Oberbürgermeister Kurt Bartlewski und dem damaligen Oberstadtdirektor Klaus Bussfeld auf dem Cover, natürlich umgeben von bestem Gelsenkirchener Barock.)

Moment der Woche: Die Hitze des Theaters spüren

Alter Ford Mustang mit großem weißen Segel auf der Bühne mit zwei Schauspieler/innen
Aus dem Stück „Trip Over“ von Theater Titanick auf der Sommerbühne auf Consol

Nach wie vor bin ich beeindruckt vom großen kostenlosen Kulturangebot. Zum Beispiel am Samstag auf der Sommerbühne auf Consol: Das Stück „Trip Over“ von Theater Titanick. Ein Roadtrip in traumartigen Bildern rund um einen alten Ford Mustang. Ich lasse mich davontragen von dem wunderbar bunten Treiben auf der Bühne und der Musik – und bin für einen Moment ganz gepackt davon, dass ich bei einer zur Inszenierung gehörenden Pyrotechnik-Einlage meine, die Hitze des Feuers auf meinem Gesicht zu spüren. So körperlich nah ist mir Theater schon lange nicht mehr gegangen.

Schild der Woche

Aufgeschnappt bei einem Spaziergang vom Hauptfriedhof Buer nach Westerholt (und zurück):

Schild mit der Aufschrift "Vorsicht! Fliegende Golfbälle"
Schild am Golfclub Schloss Westerholt (wie sehen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen aus?)

2 Gedanken zu „Schreiben, Selbstironie und Theaterhitze

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