Es geht los! In den vergangenen Tagen wurde ich als writer in residence in Gelsenkirchen begrüßt und durfte erste Eindrücke sammeln: im Skulpturenwald, in der S-Bahn und beim Pressegespräch.
So ist Gelsenkirchen
Bei meiner Vorstellung als writer in residence beim Pressegespräch am Donnerstag betonen alle Anwesenden, dass sie an der Außensicht interessiert sind, die ich als Gast auf ihre Stadt werfe. In meinen ersten 24 Stunden in Gelsenkirchen bekomme ich jedoch auch viele interessante Einschätzungen von Stadtkundigen zu hören:
- Nicht schön, aber spannend sei Gelsenkirchen, höre ich jemanden an meinem ersten Abend sagen.
- Auf der einen Seite grün, auf der anderen Seite zugebaut: So sei das Ruhrgebiet, sagt Andrea Rohmert, beim Referat Kultur der Stadt Gelsenkirchen verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie spielt damit auf den Ausblick aus meiner Wohnung an – einerseits der große Garten hinterm Haus, andererseits die Bochumer Straße.
- Gelsenkirchen sei natürlich eine Stadt mit Problemen, aber auch eine sehr tapfere und interessante Stadt, die noch dazu viel grüner sei, als viele es erwarten, wenn sie das erste Mal zu Besuch sind, sagt Bärbel Kerkhoff, Geschäftsführerin der Gelsenwasser-Stiftung, beim Pressegespräch am Donnerstag.
- In Gelsenkirchen könne man sich das leisten, sagt die Malerin Jannine Koch, als ich über die Zweizimmerwohnung staune, die sie als Atelier nutzt (Jannine Koch wiederum wirkt erstaunt über mein Staunen – ein Ergebnis des notorischen Münchner Platzmangels, der mich freie Flächen als Luxus wahrnehmen lässt).
Meinerseits lasse ich mir noch etwas Zeit mit einer Einschätzung und sammle erst einmal Eindrücke. 🙂
S-Bahn-Moment 1
In der S2 von Dortmund Richtung Essen am Samstagabend setzt sich mir ein Typ gegenüber: breitbeinig, die Hände am Schritt, mehrere breite Goldringe an den Fingern, die verpflichtende medizinische Maske sehr weit unten auf der Nase. Draußen ist es bereits dunkel, ich beobachte den Mann in der Spiegelung im Fenster. Dicke goldene Schnallen zieren seine schwarzen Ledersandalen. Er zieht einen Fuß aus einer Sandale und massiert ihn konzentriert. Ohne ein Wort miteinander gesprochen zu haben, steigen er und sein Bekannter an einer Dortmunder Haltestelle aus.
S-Bahn-Moment 2
Wenige Stationen weiter, in Herne, steigen fünf Jugendliche zu, die untereinander Arabisch sprechen. Einer von ihnen trägt eine schwarze Kappe, den Schirm nach hinten, so dass der weiße Schriftzug auf seinem Hinterkopf steht: „Ruhrpott“ in großer altmodischer Schrift gestickt. Als sich die Gruppe zum Aussteigen in Wanne-Eickel anstellt, spricht der mit der Kappe eine junge Frau an, die ebenfalls auf den Ausstieg wartet: „So spät noch allein unterwegs? Was sagt dein Vater dazu?“ Die Antwort der jungen Frau ist nicht zu hören. Es ist viertel vor elf abends.
Spazieren zu Skulpturen
Am Sonntag spaziere ich von meiner Wohnung mit Fotoapparat los, durchstreife den Wissenschaftspark Gelsenkirchen und den Skulpturenwald Rheinelbe (wo ich immer wieder vor verwitterten Steinen mit Stahlträgern stehenbleibe und mich frage, ob diese wohl zu den elf am Eingang des Walds angekündigten Kunstobjekten gehören).
Was sonst noch so passiert
- 40 Jahre Horst Schimanski: Am 28. Juni 1981 erblickte die Duisburger Figur zum ersten Mal das Licht der Mattscheibe und wurde – gerade in Duisburg – zunächst durchwachsen aufgenommen, wie WDR 5 am Montag zu berichten weiß. Inzwischen haben Fans freilich längst die Benennung einer Horst-Schimanski-Gasse in Duisburg durchgesetzt.
- Eine Achtjährige aus Essen wird am Donnerstag ein paar Stunden lang vermisst – bis sie am Nachmittag am Bahnhof in Gelsenkirchen aufgegriffen wird, wie die WAZ berichtet.
Die S-Bahn-Momente scheinen mir etwas unglücklich ausgewählt: Aus einer Vielzahl von Alltagsmomenten pickst du zwei heraus, die Außenstehenden als – deinen – ersten Eindruck vermitteln, in den S-Bahnen des Ruhrgebiets säßen arabisch aussehende Proleten, die sich breitbeinig die Eier kratzen und alleinreisende junge Frauen angraben.
Die Presseschau mit Schimanski-Jubiläum und dem vermissten Kind (das sich ja bloß verirrt hatte) verstärkt diesen Eindruck leider: In der Zusammenstellung mit den S-Bahn-Momenten wirkt es so, als hättest du das Ruhrgebiet in deiner ersten Woche als einzige riesige Tatort-Kulisse wahrgenommen.
Ich wünsche dir, liebe Carola, dass du – genau wie einst Schimanski – den Vorwurf der Klischeehaftigkeit lässig abschütteln und als nächstes die schönen Facetten Gelsenkirchens entdecken wirst. Glück auf!
Danke für die ausführliche Rückmeldung. Noch stehe ich ganz am Anfang meines Aufenthalts und beginne gerade erst, Eindrücke zu sammeln – ich bitte um Geduld, da kommen sicher noch andere (und ich bin sicher: vielfältige, schöne, auch überraschendere) Eindrücke dazu.
Nun hat der Zufall es so gewollt, dass ich am Samstagabend mit der S-Bahn von Dortmund nach Gelsenkirchen gefahren bin und dabei diese Beobachtungen gemacht habe. Dass ich auch an anderen Seiten des Ruhrgebiets interessiert bin, versteht sich von selbst (und zeigt sich vielleicht am Spaziergang im Skulpturenwald Rheinelbe).
Ein erster Blogeintrag kann sicher nicht allen Facetten gerecht werden, ja, auch die Einträge, die in den nächsten Wochen noch folgen werden, können das nicht leisten. Es ist und bleibt eine subjektive Auswahl: Ich nehme wahr, was mich umgibt, und lasse dabei auch dem Zufall seinen Raum.
Sich Zufallsmomenten zu öffnen, ist ganz wundervoll und wird noch spannender, wenn zugleich die Wahrnehmung geschärft wird. Welche „Zufälle“ springen mir ins Auge und welche nicht?
Ich bin mir sicher, dass es bei bzw. nach deiner Ankunft auch andere Begegnungen und Zeitungsartikel gegeben haben muss, die schildernswert gewesen wären und weniger Fettnäpfchen-Gefahr mit sich gebracht hätten. „Nun hat der Zufall es so gewollt“ als Begründung täuscht darüber hinweg, dass du als Schriftstellerin das Zepter in der Hand hältst und selbst darüber entscheidest, welche Geschichten/Alltagsminiaturen es aufs Papier schaffen und was für eine Realität du damit konstruieren möchtest.
Deine „subjektive Auswahl“ sollte sich ihrer Außenwirkung deshalb stets bewusst sein (Stichwort: #401GE) und muss sich entsprechend auch daran messen lassen. Für mich ist dieses Reflektieren überhaupt der Kern von Schreiben, Literatur und Literaturkritik. Glück auf!
Richtig, als Autorin habe ich „das Zepter in der Hand“, wie Du schreibst. Das bedeutet auch, dass ich keinem äußeren Auftrag verpflichtet bin. Ich schreibe das auf, was mir auffällt – und wenn es (unter anderem) das Machogehabe von jemandem in der S-Bahn ist (btw: Deine Zusammenfassung mit den „arabisch aussehenden Proleten, die sich breitbeinig die Eier kratzen“ usw., stimmt so nicht – über die Phänotypen steht nichts im Text, das hast du hineingelesen und die beiden Gruppen bei der Gelegenheit miteinander vermischt … ).
Dass es in den genannten Medienberichten um keine spektakulären Ereignisse geht (sondern um deren Abwesenheit): Darin liegt aus meiner Sicht gerade deren Charme.
Wenn Du unzufrieden mit meinem Blogpost bist, möchte ich Dich sehr ermutigen, Deine eigene Sicht auf das Ruhrgebiet kundzutun, z.B. in einem eigenen Blog. 🙂
Dein letzter Satz klingt ein wenig so, als wäre Kritik an dieser Stelle unerwünscht. Mir liegen Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet einfach sehr am Herzen und ich finde den Abgleich zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unheimlich spannend. Von daher bietet ein eigener Ruhrgebietsblog für mich keinen Mehrwert. Es tut mir leid, dass ich mit deinem ersten Blogeintrag so streng ins Gericht gegangen bin, hoffe allerdings auch, dass du meine Kritikpunkte zumindest im Ansatz nachvollziehen kannst. Ich gelobe mehr Wohlwollen und bin gespannt auf deine nächsten Einträge!
Resonanz und (konstruktive) Kritik sind erwünscht. Die Bemerkung mit dem eigenen Blog war so gemeint: Gut möglich, dass dieser Blog nicht die Erwartungen erfüllen wird, die Du an ihn hast.
Das Anliegen hinter Deinen Kritikpunkten ist für mich deutlich geworden (auch wenn ich den Standpunkt nicht teile).
Auch ich bin gespannt auf die nächsten Einträge und mehr noch auf die dahinterstehenden Eindrücke. 🙂
Warst du schon im Wissenschaftspark? Dort sind aktuell die Neuaufnahmen für das Pixelprojekt Ruhrgebiet ausgestellt: einige ganz fantastische Fotoserien, mit denen du einen Eindruck von der Vielfältigkeit des Ruhrgebiets bekommst: https://www.waz.de/kultur/junges-glueck-und-geisterbahn-pixelprojekt-mit-neuen-serien-id232691161.html
Im Wissenschaftspark war ich, allerdings nur auf der Grünfläche 🙂 Vielen Dank für den Tipp mit der Ausstellung, die hatte ich bisher übersehen. Da schaue ich bei Gelegenheit mal rein.
Hallo Frau Gruber,
herzlich willkommen in Gelsenkirchen! Einer aus vielen Gründen „spannenden“ Stadt. Allein der sportliche Austausch zwischen dem – mittlerweile zweitklassigen – S04 und Bayern München ist ja zumindest eine Verbindung zwischen Ihrer Heimatstadt und der Residenz auf Zeit ; ) Sie werden in den 3 Monaten ganz sicher viele verschiedene Menschen und Gegenden kennenlernen, wenn Sie sich durch die Stadt bewegen und dabei die Augen und Ohren offen halten. Allein das Spannungsverhältnis zwischen dem Norden und Süden der Stadt ist so typisch für das gesamte Ruhrgebiet, dass es Ihnen – oder besser: Sie ihm-zwangsläufig begegnen wird. Ich wünsche Ihnen viel Spaß und neue Erkenntnisse bei Ihrer Stadtexpedition! Schauen Sie gerne mal in meinem Quartier, der Feldmark, vorbei – vom Stadtgarten bis zur Küppersbusch-Siedlung, von der Zeppelinallee bis zum Nienhauser Busch. Der stadt.bau.raum, in dem Sie am Dienstag lesen werden, ist mittendrin : ) Liebe Grüße und Glückauf! Elke
Liebe Elke, herzlichen Dank fürs Willkommenheißen und für Ihre Tipps! Im Norden der Stadt möchte ich demnächst einmal vorbeischauen und mir ein Bild vom besagten Spannungsverhältnis machen, das auch in Gesprächen bereits mehrfach angeklungen ist. Auf die Lesung im stadt.bau.raum freue ich mich schon (noch ein Ort, den ich entdecken werde!).